London - Edinburgh - London 2013
Vorfreude
Freitag, der 4. Januar 2013, 22.50 Uhr: Früher als erwartet
wird die Onlineanmeldung freigeschaltet. Kurz darauf darf ich mich zu den ca.
1000 Randonnneuren zählen, die das 1400km lange Superbrevet Ende Juli in
Angriff nehmen dürfen. Trotz oder gerade wegen meiner Teilnahme 2009 und der
damals gesammelten Erfahrungen ist die Vorfreude riesengroß. Oft habe ich mich
in den letzten vier Jahren an grandiosen Landschaften, intensive Gefühle und
die großartige Unterstützung durch die Helfer erinnert. In den folgenden Wochen
werden Erfahrungsberichte von damals gelesen, Pläne bezüglich Anreise und
Unterkunft geschmiedet und ein grobes Trainingsprogramm erstellt. An der
Ausrüstung wird natürlich auch gefeilt, immerhin ist eine Radtour dieses
Ausmaßes eine willkommene Legitimation, den einen oder anderen Betrag in eine
für Außenstehende bereits komplette Ausstattung zu investieren.
Masterplan
"Der beste Plan wird spätestens mit dem ersten Feindkontakt
hinfällig" habe ich irgendwo einmal gelesen und seit Paris - Brest - Paris
2007 weiß ich, dass dies zumindest für mich zutrifft. Ich beschränke mich daher
darauf, mir noch einmal die in der Schwarmintelligenz der Randonneur
verankerten Grundsätze des Langstreckenradfahrens ins Gedächtnis zu rufen, an
die ich mich während der Tour halten will:
- verwende nur ausreichend getestetes Material, besonders
wenn es um die Kontaktfläche Mensch-Fahrrad (z. B. Sattel, Hose, Pedale,
Schuhe, Lenker) geht
- starte nicht zu schnell, sonst bezahlst Du später doppelt
und dreifach oder es droht sogar ein DNF
- denke maximal bis zur nächsten Kontrolle
- Zeit wird vor allem in den Kontrollen verloren, keep on going
- trinke, bevor Du durstig bist, verzichte nicht auf
regelmäßige Nahrungsaufnahme zwischen den Kontrollen
- der Körper kann nur einen Schmerz wahrnehmen, andere
Unbefindlichkeiten werden ausgeblendet
- wenn die Straße ein Eigenleben entwickelt (ein sicheres
Anzeichen für Halluzinationen), wird es Zeit für einen Powernap oder eine
längere Pause
- nach jedem Tief kommt ein Hoch
- versuche jeden Moment zu genießen, lass Dich vom
Wechselspiel der Natur von den Strapazen ablenken, denn allzu schnell ist es
vorbei und Dir bleibt nur die Sehnsucht und die Hoffnung auf ein nächstes Mal.
- lerne aus Deinen Fehlern der Vergangenheit, damit sie
nicht umsonst begangen wurden
Im Epizentrum
Loughton, 27. Juli : Im Laufe weniger Stunden wird der
Startort im Norden Londons, von dem man das Gefühl hat, dass sich seine
Einwohner gar nicht bewußt sind, dass ihr Städtchen Start und Ziel des
Abenteuers der verwegenen 1000 sein wird, zum Epizentrum der Randonneure. Von
überall auf der Welt sind sie gekommen, ihre Räder, Erscheinungen und die
Herangehensweise an die anstehende Prüfung mögen verschieden sein, gemeinsam
ist ihnen die weltoffene, hilfsbereite Haltung, die ich so in keinem Kollektiv
gesehen habe und die Liebe zum Fahrrad. Da die Registrierung tadellos
funktioniert, bleibt viel Zeit alte Bekannte zu begrüßen, neue Bekanntschaften
zu machen und dem emsigen Treiben zuzuschauen.
Prolog
Da ich mich entschieden hatte, am Prolog mit Start vor dem
Buckingham Palace und anschließender Sightseeingtour zum eigentlichen Startort
Loughton teilzunehmen, mache ich mich am Tag vor dem eigentlichen Start auf den
Weg nach London, wo ich auch die letzte normale Nacht für die nächsten Tage
verbringen werde.
Am Sonntag, gegen 5.30 Uhr, verlassen ich und mein Fahrrad
das Hotel sowie einen staunenden Concierge mit dem (Zwischen-)Ziel Edinburgh.
Der Prolog ist ein Erlebnis, nie hätte ich mir bei meinen bisherigen
Londonbesuchen ausgemalt, an einigen der bekanntesten Bauwerken Londons im Pulk
mit 300 Gleichgesinnten vorbeizurollen.
Schön, dass dies in einer Weltstadt wie
London offiziell möglich ist, während die Brevetveranstalter in Deutschland im
letzten Jahr häufig mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, wir seien ein Automobilisten
nicht zumutbares Verkehrshindernis.
Loughton - Edinburgh
Okay, das mit dem nicht zu schnell starten bekomme ich nie
so richtig hin. Zu groß ist die Aufregung, nachdem ich monatelang auf diesen
Moment hingefiebert habe: ich trete in die Pedale, scheinbar mühelos setzte ich
mich in Bewegung, Adrenalin und ein kräftiger Rückenwind tun ihr Übriges und
schnell zeigt der Tachometer konstant 35-40km/h. Das graue Asphaltband unter
meinen Rädern verbirgt noch seine Rauheit und scheint dem strahlend blauen
Himmel entgegenzustreben.
Durch die Aufteilung in viele kleine Startgruppen, die im
Abstand von 15 Minuten auf die Strecke geschickt wurden, ist das Feld bereits
stark auseinander gezogen, so dass ich schon bald alleine unterwegs bin. Bald
kreuzt unsere Route die der Radtouristikveranstaltung London – Cambridge. Schnell
bewege ich mich in durch das Fahrerfeld und frage mich, ob ich nicht doch das
Tempo reduzieren soll. Ein kurzer Kontrollblick auf die Herzfrequenzanzeige beruhigt
mich, ich befinde mich weiterhin im (oberen) grünen Bereich.
Über heckengesäumte Sträßchen und sanfte Hügel gleiten wir
abseits der Hauptverkehrsverbindungen dahin und früher als erwartet taucht das
Ortsschild von St. Ives, der ersten Kontrolle auf. Erwartungsgemäß ist die
Kontrolle überfüllt, daher hole ich mir nur schnell den obligatorischen Kontrollstempel
und verpflege mich aus meinen Vorräten.
Die nächsten 80 Kilometer führen durch die Fens, eine
topfebene Landschaft mit Straßen, die scheinbar ohne jede Kurve auskommen. Auf
meinen Triathlonaufsatz abgestützt erscheint mir mein Schattenwurf wie die
perfekte Symbiose aus Mensch und Maschine. Mühelos gleite ich dahin, die
Monotonie der Fens kann mir auch dank des weiterhin kräftigen Rückenwindes
nichts anhaben. Für einige Kilometer geht es auf einem Damm parallel zu einem
Kanal dahin.
Wasser, das Grün der Weiden und der strahlend blaue Himmel,
brennen ein Bild auf meine Netzhaut, dass ich noch lange in mir tragen werde.
Auch in Kirton muss man sich eine warme Mahlzeit mit
Schlangestehen verdienen und so belasse ich es bei etwas Obst und ein paar Nüssen.
Der nächste Abschnitt bringt dann ein längeres Stück mit Seitenwind und einen
Vorgeschmack auf die Zeit, wenn der Rückenwind ausbleiben wird.
Wie aus dem Nichts hat sich plötzlich der Himmel zugezogen
und es beginnt zu regnen. Eigentlich eine willkommen Abkühlung zu der momentan
für England untypischen Temperatur. Trotzdem bin ich nicht unglücklich, dass
ich mich kurz darauf im Trockenen an der Front des sehr lokalen Schauers
befinde, während die Radfahrer, die sich nur einige hundert Meter hinter mir
befinden, kräftig nass werden. Zum Glück geht es bald wieder Richtung Norden
und der zurückkehren Rückenwind hebt meine Stimmung merklich.
Gegen Ende dieser Etappe zweigt unsere Route zum ersten Mal
für längere Zeit auf eine der typischen englischen Lanes, einspurige Feldwege
mit dichtem Seitenbewuchs, ab und in wildem Zickzack nähere ich mich der
nächsten Kontrolle scheinbar durch die Hintertüre.
In Market Rasen ist der Auflauf vor der Essensausgabe
erfreulich klein und mein Hunger mittlerweile so groß, dass ich die Gelegenheit
nutze und mich an Fish and Chips stärke. Mit dem Japaner, der sich zu mir setzt,
komme ich schnell ins Gespräch. Ganz anders als bei meinen beiden Japanurlauben,
als sich die Japaner zwar immer äußerst höflich aber doch eher zurückhaltend präsentierten.
Ein schönes Beispiel für den völkerverbindenden Charakter des
Langstreckenradfahrens.
Nach Market Rasen geht es gleich auf eine kleine Hochebene.
Die gewonnenen Höhenmeter werden dann in einigen langgezogenen Wellen wieder
abgebaut. Wie häufig hat sich der Wind mit Anbruch des Abends gelegt. Ich
brauche einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen, dass der Tachometer jetzt
niedrigere Geschwindigkeiten anzeigt, da ich mich jetzt nur noch aus eigener
Kraft fortbewege. Außerdem rumort mein Magen. Fish and Chips, so gut sie auch
waren, brauchen anscheinend mehr Verdauungsleistung als mein Körper ihnen
momentan zugestehen kann. Nach dem bisher optimalen Verlauf des Tages auf den
Boden der Tatsachen zurückgeholt, quäle ich mich einige Kilometer dahin. Zum
Glück zaubert die untergehende Sonne ein unbeschreibliches Farbenspiel auf die
vor mir liegende Landschaft, so dass diesem nun meine ganze Aufmerksamkeit
gilt. Deutlich ist die Humber Bridge, lange Zeit die längste Hängebrücke der
Welt, am Horizont zu erkennen. Mit dem Schwinden der letzten Sonnenstrahlen
überquere ich dieses imposante Bauwerk, von dem ich einen beeindruckenden Blick
auf die vom Abendrot erleuchtete Bucht von Hull habe und tauche in die Nacht
ein.
Zu den Nachtfahrten, mit denen man bei einem Brevet dieser
Länge zwangsläufig konfrontiert wird, gibt es zwei Einstellungen: entweder man
liebt sie oder man versucht sie so gut wie möglich zu vermeiden.
Da ich die
erste teile, genieße ich es im Licht meiner Frontlampe der Straße in die
Dunkelheit zu folgen.
In einer Abfahrt in ein Dorf liegen dann aber plötzlich Kieselsteine
auf der Straße, einigen kann ich noch ausreichen, dann rumpelt es, zischt und
ich rolle mit plattem Vorderreifen die letzten Meter ins Dorf. Zum Glück sind
keine Speichen gebrochen und so ist der Schaden schnell im Licht einer Straßenlaterne
behoben. Bald darauf habe ich die nächste Kontrolle in Pocklington erreicht.
Beim Verlassen der Kontrolle merke ich leider, dass mein
Vorderreifen wieder platt ist. Ich behebe auch diesen Platten unter Verwendung
meines zweiten und leider auch letzten Ersatzschlauches. Zur Sicherheit möchte
ich beim Fahrradmechaniker der Kontrolle noch einen Ersatzschlauch kaufen, aber
scheinbar hatte nicht nur ich bisher unerwartet viele Platten und so sind seine
Vorräte bereits aufgebraucht. Mit ungutem Gefühl - ich möchte nur ungern im
Dunklen ein winziges Loch in einem Fahrradschlauch finden und flicken müssen -
verlasse ich Pocklington.
Gleichzeitig mit mir bricht eine Gruppe Franzosen auf, der
ich mich anschließe. Mit gleichmäßigem Tempo geht es durch die laue Nacht. Die
Straße gehört uns mittlerweile ganz alleine und trotzdem biegt die Route bald
darauf auf eine der schmalen Lanes ab. Teilweise ist die Hälfte des Straßenbelages
weggebrochen, dann reiht sich ein Schlagloch ans andere. Dank guten Ansagen in
der Gruppe schaffen wir es wie durch ein Wunder ohne Defekt durch diese heikle
Passage. Leider zerfällt unsere Gruppe bald darauf an dem achterbahnartigen
Verlauf der Straße - der korrekte Ausdruck "Rolling Hills" schleicht
sich erst später in mein Vokabular ein - durch den weitläufigen Park von Castle
Howard.
Der Abschnitt in den Howardian Hills verlangt vollste
Konzentration, vor allem bei Nacht und einsetzendem Regen. In den Abfahrten
scheint man sich kopfüber in ein schwarzes Loch zu stürzen aus dem man mühsam im
kleinsten Gang wieder emporkriecht. Endlich, nach unzähligen Aufs und Ab,
befinde ich mich auf der Abfahrt nach Coxwold, wo sich 2009 eine Kontrollstelle
befand. Als ob beim Erreichen des Ortsschildes eine Tür in meinem Gehirn
geöffnet wurde, werde ich von Erinnerungen überflutet, als sei es erst gestern
gewesen, dass ich das Dorf mit seiner pittoresken Kirche am Dorfausgang passiert
habe. Kurz darauf erreiche ich gegen 4:30 Uhr die Kontrolle in Thirsk.
Mehr zum Vorbeugen, als aus spürbarer Müdigkeit, bette ich nach
dem Essen meinen Kopf auf die verschränkten Vorderarme und versinke in einen 40
minütigen, tiefen Schlaf.
Kurz nach Sonnenaufgang verlasse ich Thirsk. Mit Erwachen
des neuen Tages bekomme ich Gelegenheit, Meister Lampe, den ich auf meinem Weg
gen Norden bisher nur als Roadkill in den verschiedensten Verwesungsstadien
kennengelernt hatte, bei seinem von jeglicher Vernunft losgelösten und daher
wohl häufig terminal endenden Fluchtgebaren zu beobachten. Auch das eine oder
andere Reh wird durch mich aufgeschreckt, stellt sich aber wesentlich intelligenter
an. Pittoreske Dörfer säumen die Route, die sich neben seiner landschaftlichen
Schönheit auch hier wieder durch das Fehlen jedes Autoverkehrs auszeichnet.
Schnell erreiche ich den River Tees, den ich über eine Holzbrücke quere und
befinde mich kurz darauf auf den letzten Kilometern zur Kontrolle in Barnard
Castle.
Die Kontrolle ist fast leer, ein Zeichen, dass ich das
Hauptfeld hinter mir gelassen habe. Bei einer großen Portion Porridge, Toast
und Speck tausche ich das bisher Erlebte mit ein paar deutschen Randonnneuren
aus und erstehe außerdem einen Ersatzschlauch beim Fahrradmechaniker an der
Kontrolle bevor ich wieder aufbreche.
Mittlerweile regnet es kräftig.
Der Wind peitscht mir den
Regen ins Gesicht als ich die langgezogenen Hügel erklimme, die zwischen
Barnard Castle und dem malerischen Dorf Middleton-in-Teesdale liegen, wo der
längste zusammenhängende Aufstieg der Tour auf den Yad Moss beginnt. Am Fuße
des Anstieges legt sich der Regen, der Gegenwind aber bleibt und entwickelt
sich wegen der kargen, weiten Hochebenen rund um den Yad Moss zu einem
veritablen Gegenspieler. Zum Glück ist die Steigung im Vergleich zu unseren
Mittelgebirgen eher moderat und so genieße ich die mit zunehmender Höhe immer
grandioser werdende Aussicht. Ich passiere auch jene weiße Scheune, die zu den
Wahrzeichen von LEL gehört.
Kurze Schauer und Sonnenschein wechseln sich ab und tauchen
die Szenerie in immer wieder wechselnde Stimmungen. Am Passübergang meine ich
bereits die Southern Uplands Schottlands erkennen zu können, dann geht es in
einer langen Abfahrt hinunter nach Alston, wo eine durch den Regen rutschig
gewordene Kopfsteinpflasterpassage auf mich wartet.
Nach Alston setzt sinnflutartiger Regen ein, der die Straße
schnell unter einer 10 cm tiefen Wasserfläche verschwinden lässt.
Ich halte die Luft an und hoffe, dass ich nicht in ein unter
der Wasseroberfläche verborgenes Schlagloch rausche, doch zum Glück gehört der Straßenbelag
zu den besseren und so bleibe ich von einem weiteren Platten verschont. Einige
Kilometer vor Brampton scheint dann wieder die Sonne mit voller Intensität und
lässt das gerade Erlebte umso surrealer erscheinen.
Bester Dinge verlasse ich Kontrolle und nehme die nächste
Etappe in Angriff, die mich endlich nach Schottland führen wird. Nach einigen
flachen Kilometern erreiche ich Longtown von wo es auf einer stärker befahrenen
Straße weitergeht, die mir aus 2009 wegen des rücksichtslosen Schwerverkehrs in
schlechter Erinnerung geblieben ist.
Zum Glück zweigt unsere Route bald
Richtung Lockerbie ab. Es wird wieder ruhiger, dafür fällt es mit zunehmend
schwerer, die Augen offen zu halten. Die gleißende Mittagssonne und die
Tatsache, dass ich wegen des trüben Wetters am Morgen noch die klaren, für die
Nacht gedachten Wechselgläser in meiner Sonnenbrille habe, machen es nicht
einfacher gegen die schweren Lider anzukämpfen. Dazu kommt, dass die Straße,
auf der wir uns jetzt befinden zwar nicht stark befahren ist, dafür aber
parallel zur Autobahn, die die Hauptverbindung zwischen England und Schottland
bildet, verläuft.
Die aufsteigende Müdigkeit sowie der wegen der bisherigen
Routenführung ungewohnte Lärm, entnerven mich und rauben mir jede Kraft. Seit
langem überholen mich wieder Radfahrer, ein sicheres Zeichen, dass ich deutlich
langsamer geworden bin. Kurz nach Überqueren der schottischen Grenze steige ich
vom Rad und schließe, an das Denkmal eines lokalen Dorfpoeten gelehnt, für 15
Minuten die Augen.
Die Müdigkeit ist danach verschwunden, die Moral aber
weiterhin am Boden. Ich hadere mit der Streckenführung und dem schlechten Straßenbelag,
doch die Rettung naht ausgerechnet in Lockerbie. An einer Tankstelle genehmige
ich mir meine bewährte Geheimwaffe: ein Calippo und einen halben Liter Coca
Cola!
Sofort als ich weiterfahre, merke ich, dass Kraft und Wille zurückgekehrt
sind. Die Straße ist zwar weiterhin öde, aber im Gegensatz zu vorher stört mich
das jetzt überhaupt nicht mehr. Der soeben zugeführte Raketentreibstoff treibt
die Beine zu einer vor 30 Minuten unvorstellbar gewesenen Leistung an. Im
Rausch der Geschwindigkeit rase ich mit brutaler Gewalt über die letzten Hügel,
die sich zwischen mir und Moffat aufbauen.
Da ich Edinburgh möglichst noch bei Tageslicht erreichen
will, verlasse ich die Kontrolle in Moffat nach einer den nächsten 85
Kilometern angemessenen Mahlzeit. Da Moffat direkt am Fuße der Southern Uplands
liegt, beginnt der Aufstieg in diese direkt an der Stadtgrenze. Die tief
stehende Spätnachmittagssonne, der blaue Himmel mit vereinzelten Wolken und der
moderate Rückenwind machen den Aufstieg in die Uplands zu einem Highlight der
gesamten Tour. Sanft steigt die Straße an der einen Talseite an und gibt den
Blick auf einen in saftiges Grün getauchten Talkessel frei, den sogenannten Devils
Beef Tub. Das ist die pure Leichtigkeit des Seins. Für solche Momente lohnt es sich zu leben und leiden!
Bald erreiche ich einen Pass, dann geht es kilometerlang
leicht bergab durch ein Tal, dem bis auf die Straße jedes Zeichen von
Zivilisation fehlt. Auf meinen Triathlonaufsatz liegend komme ich schnell
voran, erreiche schließlich den Talgrund von dem es jetzt immer leicht bergauf
geht, was wegen des Rückenwindes aber kaum wahrnehmbar ist. Zwischenzeitlich komme
ich in einen kräftigen Schauer, der mich aber nach kurzer Zeit aus seiner
nassen Umklammerung entlässt und mich fortan immer weiter nach Edinburgh
treibt. Ein paar Mal noch steht die Straße komplett unter Wasser, noch ein paar
knackige Anstiege, dann geben mich die Uplands wieder frei und kurz nach
Einbruch der Dunkelheit ist Edinburgh erreicht.
Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf und voller Vorfreude
auf eine heiße Dusche, frische Radkleidung, eine warme Mahlzeit und ein paar
Stunden Schlaf stelle ich mein Rad an der Wand des Sportzentrum ab, in dem sich
die Kontrolle befindet. Nach Entgegennahme meines Bag-drops setzte ich meine
Pläne dann sofort in die Tat um und liege schon bald auf einer der komfortablen
Luftmatratzen und versinke augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nach drei Stunden werde ich wie abgemacht geweckt. Die Halle, in der ich
geschlafen habe, muss sich mittlerweile gefüllt haben, anders ist das
konzertartige Schnarchen nicht zu erklären. Nach einem schnellen Frühstück, das
aus Nudeln besteht, bin ich bereit für die Rückfahrt.
Edinburgh - Loughton
Gegen 2.00 Uhr schwinge ich mich wieder auf mein Rad und
mache mich auf den Rückweg. Der Verkehr ist dank der nachtschlafenden Zeit
nicht existent und so verlasse ich Peripherie Edinburghs zügig, um mich auf
kleinen Sträßchen wieder in die Southern Uplands hochzuarbeiten. Der Abschnitt
zwischen Edinburgh und Langholm war 2009 der Abschnitt, der mir am besten
gefallen hatte. Entsprechend groß ist die Vorfreude. Schon bald taucht unter
mir das Lichtermeer von Edinburgh und Agglomeration auf, während ich den ersten
Ausläufer der Uplands erklimme.
Auf dessen Gipfel halte ich für ein paar Minuten und nehme wehmütig
Abschied von Edinburgh, dem Fixpunkt, auf dessen Erreichen sich in den letzten
zwei Tagen alles drehte.
Bald darauf geht es in einer langen Abfahrt mit gleichmäßiger
Steigung hinunter nach Innerleithen, das um diese Zeit verlassen vor sich
hinschlummert. Die Temperatur ist auf gefühlte 6°C abgesunken, so dass ich auf
der langen Abfahrt zum ersten Mal friere. Daher bin ich froh, dass kurz darauf
der Anstieg zur Kontrolle in Traquair beginnt, wo ich standesgemäß von einem
Helfer im Schottenrock empfangen werde.
An diese Kontrolle habe ich sehr gute Erinnerungen und es scheint
das gleiche Team vor Ort zu sein wie 2009. Da außer mir nur drei weitere Randonneure
vor Ort sind, genieße ich Rundumbetreuung. Ich erhalte einen großen Becher
heißen Tee und eine noch größere Portion Porridge vorgesetzt. Auf die Abfahrt
nach Innerleithen angesprochen, erzählt mir ein freundlicher älterer Herr, dass
die Straße von einem Eisenbahningenieur entworfen wurde, was das perfekt
gleichmäßige Gefälle erklärt.
Mit Einsetzen der Morgendämmerung sitze ich wieder auf dem
Rad. Eine Zeit lang begleitet mich ein sanft dahinplätschernder Bach bei meinem
Aufstieg auf die nächste Hügelkette, dann rausche ich hinunter in ein grünes
Tal, aus dem sich träge der Tau in Form von Nebelschwaden unter den ersten
Sonnenstrahlen des neuen Tages emporhebt.
Ich überquere einen kleinen Fluss am
Talgrund und schon geht es an der Flanke der nächsten Hügelkette wieder
bergauf. Ich quere noch zwei bis drei weitere einsame Hochtäler, dann holt mich
die Zivilisation in Form eines buddhistischen Klosters wieder ein und kündigt
gleichsam das baldige Erreichen der Kontrolle in Eskdalemuir an.
Ich nehme das mittlerweile dritte Frühstück des Tages ein,
das auch hier wieder vorzüglich schmeckt, werfe einen letzten Blick auf die in
die Jahre gekommene Community Hall, die mit unserem Gastspiel eine, wie ich
finde, würdige letzte Veranstaltung beherbergte, bevor sie dem Erdboden gleich
gemacht werden wird und mache mich auf den Weg zurück nach Brampton.
Die
nächsten 20 Kilometer über eine teils stark in Mitleidenschaft gezogene Straße
führen schließlich aus den Southern Uplands heraus, wo die Route in Langholm
auf die Schnellstrasse nach Longtown abzweigt.
Zum Glück gibt es mittlerweile einen Radweg, der in einigem
Abstand zu der durch viele Lastwagen befahrenen Schnellstraße entlang führt, so
dass dieser Abschnitt nicht so schlimm ist wie in 2009. In Longtown ist die
Schleife durch Schottland schließlich beendet und die Route ist wieder
identisch mit dem Hinweg. Vereinzelt kommen mir noch Fahrer auf ihrem Weg nach
Edinburgh entgegen, dann rolle ich zum zweiten Mal in Brampton ein.
Eine warme Mahlzeit und zwei Äpfel später bin ich bereits
wieder auf der Straße. Mich empfängt ein moderater Gegenwind, aber es ist kein
Vergleich zu 2009, als ich auf diesem Abschnitt trotzt größter Anstrengung nur
12 km/h schaffte. Kurz vor Alston überholt mich eine Gruppe Rennradfahrer auf
einer Trainingsausfahrt. Auf meine Startnummer angesprochen, gebe ich Auskunft
und ernte wie so oft Erstaunen. Der ehrliche Respekt und die guten Wünsche sind
Gold wert für meine Moral. Seit Edinburgh läuft es wie geschmiert, die Beine fühlen
sich gut an und so nehme ich die steile Kopfsteinpflasterpassage durch Alston im
Sattel sitzend.Kräfteschonend pedaliere ich den Anstieg zum Yad Moss hinauf
und werde mit einer langen Abfahrt bei perfekter Fernsicht hinunter nach Middleton-in-Teesdale
belohnt.
Wegen des Traumwetters wirkt der Ort heute besonders schön. Die Route
verläuft auf dem Rückweg auf der anderen Seite des River Tees, was deutlich
weniger Höhenmeter bedeutet. Über mauergesäumte Sträßchen gleite ich dahin und genieße
die Schönheit dieses Abschnittes in stiller Dankbarkeit. Vorbei an der Ruine
von Barnard Castle rolle ich schließlich in das gleichnamige Städtchen mit der
nächsten Kontrolle ein. Die Kontrolle ist fast leer, also keine Möglichkeit viel
Zeit zu vertrödeln und so bin ich kurz darauf wieder unterwegs.
Es folgt die Holzbrücke über den River Tees, heckengesäumte
Lanes, malerischen Dörfchen, alle bereits auf dem Hinweg durchquert, aus der
neuen Perspektive dennoch fremd wirkend. In Middleton Tyas drehe ich ein paar
Kreise, da ich die nord- und südwärts führende Route mehrmals durcheinander
bringe und erreiche schließlich Thirsk am späten Nachmittag.
Auch hier halte ich mich nicht zulange auf, denn ich möchte
die nun folgenden Howardian Hills endlich einmal bei Tageslicht sehen. Ein
weiterer Platten, diesmal am Hinterrad, den ich unter Verwendung des in Barnard
Castle erstandenen Schlauches behebe, hält mich nur kurz auf. Ein Blick auf den
Tachometer zeigt mir, daß ich gerade die 1000 Kilometermarke passiert habe.
Dann folgen die berüchtigten Rolling Hills. Bei Tageslicht verlieren sie jedoch
viel von ihrem Schrecken. Die Straße überspannt die Hügel zwar immer noch ohne
jede die Steigung mindernde Kurve, aber die Abfahrten können wegen des
Tageslichts zum Schwungholen genutzt werden, so dass die Anstiege nicht ganz so
steil erscheinen.
Manchmal führt die Straße aus dem dichten Wald und gibt den
Blick auf die in die Abenddämmerung getauchte Ebene frei.
Durch den weiten Park von Castle Howard lässt sich die Straßenbautechnik
der Rolling Hills auf einer kilometerlangen Gerade nochmals erfahren. In der
Abendstimmung gibt das direkt an der Strecke liegende Castle Howard ein imposantes
Bild ab. Kurz darauf schließt sich mir ein Engländer an, in eine Unterhaltung
vertieft, verpassen wir dann allerdings eine Abzweigung, was uns 7
Extrakilometer einbringt.
Mittlerweile ist es Nacht geworden. Vorsichtig passieren wir
den Abschnitt mit den schmalen Feldwegen, den unzähligen Schlaglöchern und dem
teilweise weggebrochen Straßenbelag. Kurz vor Pocklington fällt dann noch die
Batterielampe des Engländers aus, mein Licht reicht aber, um uns sicher durch
die stockfinstere Nacht zur Kontrolle in Pocklington zu bringen.
In Pocklington stehe ich vor der Entscheidung eine längere
Schlafpause einzulegen oder gleich weiterzufahren. Da ich aber keine Müdigkeit
spüre und die Verlockung groß ist, am nächsten Abend das Ziel zu erreichen ,
gehe ich einen Kompromiss ein und schlafe 20 Minuten am Tisch, bevor ich
weiterfahre. Sicherheitshalber kaufe ich aber noch zwei Schläuche für den Fall,
dass mich ein weiterer Platten ereilen sollte.
Die ersten Stunden verlaufen ereignislos, die Landschaft ist
nur zu erahnen, allerdings ist es empfindlich kalt geworden. Endlich taucht in
der Ferne die hell erleuchtete Humber Bridge auf. Zusammen mit zwei Deutschen,
auf die ich kurz vorher aufgefahren bin, überquere ich die Brücke. Die nächsten
Kilometer bleiben wir zusammen, dann fällt es mir immer schwerer, die Augen
offen zu halten. Ich kämpfe mit Sekundenschlaf und realisiere, dass ich es so
nicht bis nach Market Rasen schaffen werde. Ich lasse die beiden ziehen, halte
an einem verlassenen Industriegelände an und kauere mich in eine windgeschützte
Ecke und bin trotz der Kälte sofort eingeschlafen. Den Alarm habe ich auf 15
Minuten eingestellt. Meine innere Uhr oder die in mir hochkriechende Kälte
wecken mich dann Sekunden bevor der Alarm losgeht. Zitternd fahre ich weiter
und versuche die Kälte mit ein paar Sprints aus meinem Körper zu vertreiben.
Im Morgengrauen erklimme ich schließlich die kleine
Hochebene vor Market Rasen, dann ist auch dieser lange Abschnitt geschafft. In
der Kontrolle komme ich in den Genuss von Boef Stroganoff mit süßen Bohnen,
wohl eine Mischung aus dem Abendessen von gestern und dem Frühstück, das gerade
vorbereitet wird. Das Ganze schmeckt unerwartet gut und so verlange ich
Nachschlag.
Die nächste Etappe beginnt wieder mit dem einem Labyrinth
gleichenden Lanes, doch mein GPS hält mich auf Kurs. Eine sich anbahnende Krise
kann ich mit einer Flasche Coca Cola gerade noch stoppen. Nach etlichen
Kilometern auf dem Damm eines idyllischen Kanals, einigen Regenschauern und
langsam auffrischendem Gegenwind, erreiche ich die Kontrolle in Kirton.
Hier komme ich zur richtigen Frühstückszeit an, so dass ich
eine große Portion Toast, süße Bohnen, Speck und Würstchen vorgesetzt bekomme,
die mir genügend Energie für die langen Ebenen der Fens bringen sollte.
Zurück auf der Straße merke ich bald, dass die Fens heute
eine harte Prüfung sein werden. Die weite Ebene bietet keinen Schutz vor dem
kräftigen Gegenwind, außerdem regnet es ununterbrochen und die kilometerlangen
Geraden sind an Monotonie nicht zu überbieten. Langsam quäle ich mich dahin,
versuche mich auf meine Trittfrequenz zu konzentrieren und dem Wind möglichst
wenig Angriffsfläche zu bieten. Auch dank des erneuten Einsatzes meiner
Geheimwaffe (Eis und Cola) finde ich schließlich zur richtigen Einstellung
zurück. Kurz vor St. Ives komme ich dann nochmals in einen heftigen Platzregen,
dann sind die Fens durchquert und die vorletzte Kontrolle ist erreicht.
Die Kontrolle ist noch nicht so richtig auf die Zurückkehrer
eingerichtet, aber das große Nutellaglas und etliche Scheiben Toast reichen, um
mich glücklich zu machen.
Nach St. Ives verläuft die Route anders als auf dem Hinweg
mit einer letzten Kontrolle in Great Easton. Auf die Frage, ob die nächste
Etappe irgendwelche Besonderheiten bringe, erhalte ich die Antwort:
"nothing special, just some rolling hills". Eigentlich hätte ich hier
hellhörig werden müssen, doch die Tatsache, dass es nur noch 118 Kilometer bis
ins Ziel sind, macht mich leichtsinnig und ich mache mich eher auf ein lockeres
Ausrollen gefasst, was die ersten Kilometer nach St. Ives dann auch sind. Bei
mittlerweile wolkenlosem Himmel und Temperaturen, die wieder die 30°C
erreichen, rolle ich der nächsten Kontrolle entgegen. Der dichte Bewuchs am Straßenrand
schützt mich außerdem vor dem weiterhin stetig wehenden Nordwind. Eine erste
Erhebung überquerend, schätze ich meine Ankunftszeit im Ziel ab.
Kurz darauf geht es hinauf auf die nächste Hügelkette, es
folgen ein paar hochprozentige Anstiege und plötzlich beginnt meine linke
Achillessehne zu schmerzen. Dies ist vermutlich Ursache meiner Faulheit, seit
einiger Zeit nicht mehr aufs kleine Kettenblatt zu schalten und jeden Anstieg
mit niedriger Trittfrequenz und großem Kraftaufwand zu fahren.
Ich erreiche das Schloss von Saffron Walden, dessen Passage
ich für den unerwarteten Abstecher in die Hügel verantwortlich mache.
Allerdings ändert sich der Streckencharakter auch nach der Passage dieses
unbestreitbar sehenswerten Schlosses nicht wirklich.Vielmehr habe ich das
Gefühl, dass unsere Route gleich mehrmals über den gleichen Hügelkamm führt, dabei
immer die steilsten Anstiege suchend.
Irgendwo hier muss es sein, dass ich für einen Moment die
Gesamtleistung des Streckenplaners aus den Augen verliere und dem nächsten,
sich wie eine Wand vor mir aufbauenden Anstieg ein "the Routemeister tries
to kill us" entgegenschreie. Gegen Ende einer solch langen Fahrt rücken
Himmel und Hölle halt immer näher zusammen. Und so ist es nicht verwunderlich,
dass ich mich kurz darauf bei Betreten der letzten Kontrolle im Schlaraffenland
wiederzufinden scheine.
Auf den Tischen liegen Berge von süßen und sauren
Gummibärchen sowie frische Doghnuts, lauter ungesundes Zeug also, von dem ich
aber gar nicht genug bekommen kann. Dazu gibt es leckeren Milchreis mit
Früchten. Ich unterhalte mich noch einige Zeit mit der sympathischen,
ausgezeichnet deutsch sprechenden Chefkontrollerin, dann verlasse ich die
kleine Kontrolle mit dem netten, jungen Kontrollteam.
Das Verlassen der letzten Kontrolle ist immer ein besonderer
Moment. Dem Ziel so nahe, wird mir bewusst, dass es beim nächsten Stopp nicht mehr
weitergehen wird, dass die Reise, die für mich gedanklich mit der Anmeldung im
Januar begonnen hat, die meine Gefühle in den letzten Tagen wiederholt auf
Achterbahnfahrt geschickt hat, beendet sein wird. Wehmut, Vorfreude und
Erleichterung wechseln sich ab, während die
letzten Rolling Hills in der Abenddämmerung unter den schmalen Reifen
hinweggleiten. Ich versuche die letzten Kilometer ganz bewusst zu genießen, die
letzten Tage nochmals Revue zu passieren lassen. Dazu mischt sich stille
Dankbarkeit, gesund und ohne größere (mechanische) Defekte durchgekommen zu
sein.
Das Überqueren der lärmenden Autobahn kurz vor Loughton
beendet dann diese meditative Phase und leitet den Endspurt ein. Am Mittwochabend,
um 21.00 Uhr, genau 86h nach dem Start, steige ich vom Rad, das mir auch
diesmal wieder ein zuverlässiger Gefährte gewesen ist, lasse mir den letzten
Stempel in die Brevetkarte drücken und nehme die Finishermedallie in Empfang.
All good things come to an end!
Ein ganz grosses Dankeschön allen freiwilligen Helfern, die
uns mit ihrem unermüdlichen Einsatz dieses unvergessliche Erlebnis ermöglicht
haben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen