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Freitag, 18. April 2014

London Edinburgh London 2013 - Der Bericht

London - Edinburgh - London 2013


Vorfreude


Freitag, der 4. Januar 2013, 22.50 Uhr: Früher als erwartet wird die Onlineanmeldung freigeschaltet. Kurz darauf darf ich mich zu den ca. 1000 Randonnneuren zählen, die das 1400km lange Superbrevet Ende Juli in Angriff nehmen dürfen. Trotz oder gerade wegen meiner Teilnahme 2009 und der damals gesammelten Erfahrungen ist die Vorfreude riesengroß. Oft habe ich mich in den letzten vier Jahren an grandiosen Landschaften, intensive Gefühle und die großartige Unterstützung durch die Helfer erinnert. In den folgenden Wochen werden Erfahrungsberichte von damals gelesen, Pläne bezüglich Anreise und Unterkunft geschmiedet und ein grobes Trainingsprogramm erstellt. An der Ausrüstung wird natürlich auch gefeilt, immerhin ist eine Radtour dieses Ausmaßes eine willkommene Legitimation, den einen oder anderen Betrag in eine für Außenstehende bereits komplette Ausstattung zu investieren.

Masterplan


"Der beste Plan wird spätestens mit dem ersten Feindkontakt hinfällig" habe ich irgendwo einmal gelesen und seit Paris - Brest - Paris 2007 weiß ich, dass dies zumindest für mich zutrifft. Ich beschränke mich daher darauf, mir noch einmal die in der Schwarmintelligenz der Randonneur verankerten Grundsätze des Langstreckenradfahrens ins Gedächtnis zu rufen, an die ich mich während der Tour halten will:
- verwende nur ausreichend getestetes Material, besonders wenn es um die Kontaktfläche Mensch-Fahrrad (z. B. Sattel, Hose, Pedale, Schuhe, Lenker) geht
- starte nicht zu schnell, sonst bezahlst Du später doppelt und dreifach oder es droht sogar ein DNF
- denke maximal bis zur nächsten Kontrolle
- Zeit wird vor allem in den Kontrollen verloren, keep on going
- trinke, bevor Du durstig bist, verzichte nicht auf regelmäßige Nahrungsaufnahme zwischen den Kontrollen
- der Körper kann nur einen Schmerz wahrnehmen, andere Unbefindlichkeiten werden ausgeblendet
- wenn die Straße ein Eigenleben entwickelt (ein sicheres Anzeichen für Halluzinationen), wird es Zeit für einen Powernap oder eine längere Pause
- nach jedem Tief kommt ein Hoch
- versuche jeden Moment zu genießen, lass Dich vom Wechselspiel der Natur von den Strapazen ablenken, denn allzu schnell ist es vorbei und Dir bleibt nur die Sehnsucht und die Hoffnung auf ein nächstes Mal.
- lerne aus Deinen Fehlern der Vergangenheit, damit sie nicht umsonst begangen wurden


Im Epizentrum


Loughton, 27. Juli : Im Laufe weniger Stunden wird der Startort im Norden Londons, von dem man das Gefühl hat, dass sich seine Einwohner gar nicht bewußt sind, dass ihr Städtchen Start und Ziel des Abenteuers der verwegenen 1000 sein wird, zum Epizentrum der Randonneure. Von überall auf der Welt sind sie gekommen, ihre Räder, Erscheinungen und die Herangehensweise an die anstehende Prüfung mögen verschieden sein, gemeinsam ist ihnen die weltoffene, hilfsbereite Haltung, die ich so in keinem Kollektiv gesehen habe und die Liebe zum Fahrrad. Da die Registrierung tadellos funktioniert, bleibt viel Zeit alte Bekannte zu begrüßen, neue Bekanntschaften zu machen und dem emsigen Treiben zuzuschauen.

Prolog


Da ich mich entschieden hatte, am Prolog mit Start vor dem Buckingham Palace und anschließender Sightseeingtour zum eigentlichen Startort Loughton teilzunehmen, mache ich mich am Tag vor dem eigentlichen Start auf den Weg nach London, wo ich auch die letzte normale Nacht für die nächsten Tage verbringen werde.
Am Sonntag, gegen 5.30 Uhr, verlassen ich und mein Fahrrad das Hotel sowie einen staunenden Concierge mit dem (Zwischen-)Ziel Edinburgh. Der Prolog ist ein Erlebnis, nie hätte ich mir bei meinen bisherigen Londonbesuchen ausgemalt, an einigen der bekanntesten Bauwerken Londons im Pulk mit 300 Gleichgesinnten vorbeizurollen.

Schön, dass dies in einer Weltstadt wie London offiziell möglich ist, während die Brevetveranstalter in Deutschland im letzten Jahr häufig mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, wir seien ein Automobilisten nicht zumutbares Verkehrshindernis.  

Loughton - Edinburgh


Okay, das mit dem nicht zu schnell starten bekomme ich nie so richtig hin. Zu groß ist die Aufregung, nachdem ich monatelang auf diesen Moment hingefiebert habe: ich trete in die Pedale, scheinbar mühelos setzte ich mich in Bewegung, Adrenalin und ein kräftiger Rückenwind tun ihr Übriges und schnell zeigt der Tachometer konstant 35-40km/h. Das graue Asphaltband unter meinen Rädern verbirgt noch seine Rauheit und scheint dem strahlend blauen Himmel entgegenzustreben.

Durch die Aufteilung in viele kleine Startgruppen, die im Abstand von 15 Minuten auf die Strecke geschickt wurden, ist das Feld bereits stark auseinander gezogen, so dass ich schon bald alleine unterwegs bin. Bald kreuzt unsere Route die der Radtouristikveranstaltung London – Cambridge. Schnell bewege ich mich in durch das Fahrerfeld und frage mich, ob ich nicht doch das Tempo reduzieren soll. Ein kurzer Kontrollblick auf die Herzfrequenzanzeige beruhigt mich, ich befinde mich weiterhin im (oberen) grünen Bereich.

Über heckengesäumte Sträßchen und sanfte Hügel gleiten wir abseits der Hauptverkehrsverbindungen dahin und früher als erwartet taucht das Ortsschild von St. Ives, der ersten Kontrolle auf. Erwartungsgemäß ist die Kontrolle überfüllt, daher hole ich mir nur schnell den obligatorischen Kontrollstempel und verpflege mich aus meinen Vorräten.

Die nächsten 80 Kilometer führen durch die Fens, eine topfebene Landschaft mit Straßen, die scheinbar ohne jede Kurve auskommen. Auf meinen Triathlonaufsatz abgestützt erscheint mir mein Schattenwurf wie die perfekte Symbiose aus Mensch und Maschine. Mühelos gleite ich dahin, die Monotonie der Fens kann mir auch dank des weiterhin kräftigen Rückenwindes nichts anhaben. Für einige Kilometer geht es auf einem Damm parallel zu einem Kanal dahin. 

Wasser, das Grün der Weiden und der strahlend blaue Himmel, brennen ein Bild auf meine Netzhaut, dass ich noch lange in mir tragen werde.
Auch in Kirton muss man sich eine warme Mahlzeit mit Schlangestehen verdienen und so belasse ich es bei etwas Obst und ein paar Nüssen. Der nächste Abschnitt bringt dann ein längeres Stück mit Seitenwind und einen Vorgeschmack auf die Zeit, wenn der Rückenwind ausbleiben wird.

Wie aus dem Nichts hat sich plötzlich der Himmel zugezogen und es beginnt zu regnen. Eigentlich eine willkommen Abkühlung zu der momentan für England untypischen Temperatur. Trotzdem bin ich nicht unglücklich, dass ich mich kurz darauf im Trockenen an der Front des sehr lokalen Schauers befinde, während die Radfahrer, die sich nur einige hundert Meter hinter mir befinden, kräftig nass werden. Zum Glück geht es bald wieder Richtung Norden und der zurückkehren Rückenwind hebt meine Stimmung merklich.
Gegen Ende dieser Etappe zweigt unsere Route zum ersten Mal für längere Zeit auf eine der typischen englischen Lanes, einspurige Feldwege mit dichtem Seitenbewuchs, ab und in wildem Zickzack nähere ich mich der nächsten Kontrolle scheinbar durch die Hintertüre.

In Market Rasen ist der Auflauf vor der Essensausgabe erfreulich klein und mein Hunger mittlerweile so groß, dass ich die Gelegenheit nutze und mich an Fish and Chips stärke. Mit dem Japaner, der sich zu mir setzt, komme ich schnell ins Gespräch. Ganz anders als bei meinen beiden Japanurlauben, als sich die Japaner zwar immer äußerst höflich aber doch eher zurückhaltend präsentierten. Ein schönes Beispiel für den völkerverbindenden Charakter des Langstreckenradfahrens.

Nach Market Rasen geht es gleich auf eine kleine Hochebene. Die gewonnenen Höhenmeter werden dann in einigen langgezogenen Wellen wieder abgebaut. Wie häufig hat sich der Wind mit Anbruch des Abends gelegt. Ich brauche einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen, dass der Tachometer jetzt niedrigere Geschwindigkeiten anzeigt, da ich mich jetzt nur noch aus eigener Kraft fortbewege. Außerdem rumort mein Magen. Fish and Chips, so gut sie auch waren, brauchen anscheinend mehr Verdauungsleistung als mein Körper ihnen momentan zugestehen kann. Nach dem bisher optimalen Verlauf des Tages auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, quäle ich mich einige Kilometer dahin. Zum Glück zaubert die untergehende Sonne ein unbeschreibliches Farbenspiel auf die vor mir liegende Landschaft, so dass diesem nun meine ganze Aufmerksamkeit gilt. Deutlich ist die Humber Bridge, lange Zeit die längste Hängebrücke der Welt, am Horizont zu erkennen. Mit dem Schwinden der letzten Sonnenstrahlen überquere ich dieses imposante Bauwerk, von dem ich einen beeindruckenden Blick auf die vom Abendrot erleuchtete Bucht von Hull habe und tauche in die Nacht ein.
Zu den Nachtfahrten, mit denen man bei einem Brevet dieser Länge zwangsläufig konfrontiert wird, gibt es zwei Einstellungen: entweder man liebt sie oder man versucht sie so gut wie möglich zu vermeiden.

Da ich die erste teile, genieße ich es im Licht meiner Frontlampe der Straße in die Dunkelheit zu folgen.
In einer Abfahrt in ein Dorf liegen dann aber plötzlich Kieselsteine auf der Straße, einigen kann ich noch ausreichen, dann rumpelt es, zischt und ich rolle mit plattem Vorderreifen die letzten Meter ins Dorf. Zum Glück sind keine Speichen gebrochen und so ist der Schaden schnell im Licht einer Straßenlaterne behoben. Bald darauf habe ich die nächste Kontrolle in Pocklington erreicht.

Beim Verlassen der Kontrolle merke ich leider, dass mein Vorderreifen wieder platt ist. Ich behebe auch diesen Platten unter Verwendung meines zweiten und leider auch letzten Ersatzschlauches. Zur Sicherheit möchte ich beim Fahrradmechaniker der Kontrolle noch einen Ersatzschlauch kaufen, aber scheinbar hatte nicht nur ich bisher unerwartet viele Platten und so sind seine Vorräte bereits aufgebraucht. Mit ungutem Gefühl - ich möchte nur ungern im Dunklen ein winziges Loch in einem Fahrradschlauch finden und flicken müssen - verlasse ich Pocklington.

Gleichzeitig mit mir bricht eine Gruppe Franzosen auf, der ich mich anschließe. Mit gleichmäßigem Tempo geht es durch die laue Nacht. Die Straße gehört uns mittlerweile ganz alleine und trotzdem biegt die Route bald darauf auf eine der schmalen Lanes ab. Teilweise ist die Hälfte des Straßenbelages weggebrochen, dann reiht sich ein Schlagloch ans andere. Dank guten Ansagen in der Gruppe schaffen wir es wie durch ein Wunder ohne Defekt durch diese heikle Passage. Leider zerfällt unsere Gruppe bald darauf an dem achterbahnartigen Verlauf der Straße - der korrekte Ausdruck "Rolling Hills" schleicht sich erst später in mein Vokabular ein - durch den weitläufigen Park von Castle Howard.

Der Abschnitt in den Howardian Hills verlangt vollste Konzentration, vor allem bei Nacht und einsetzendem Regen. In den Abfahrten scheint man sich kopfüber in ein schwarzes Loch zu stürzen aus dem man mühsam im kleinsten Gang wieder emporkriecht. Endlich, nach unzähligen Aufs und Ab, befinde ich mich auf der Abfahrt nach Coxwold, wo sich 2009 eine Kontrollstelle befand. Als ob beim Erreichen des Ortsschildes eine Tür in meinem Gehirn geöffnet wurde, werde ich von Erinnerungen überflutet, als sei es erst gestern gewesen, dass ich das Dorf mit seiner pittoresken Kirche am Dorfausgang passiert habe. Kurz darauf erreiche ich gegen 4:30 Uhr die Kontrolle in Thirsk.

Mehr zum Vorbeugen, als aus spürbarer Müdigkeit, bette ich nach dem Essen meinen Kopf auf die verschränkten Vorderarme und versinke in einen 40 minütigen, tiefen Schlaf.

Kurz nach Sonnenaufgang verlasse ich Thirsk. Mit Erwachen des neuen Tages bekomme ich Gelegenheit, Meister Lampe, den ich auf meinem Weg gen Norden bisher nur als Roadkill in den verschiedensten Verwesungsstadien kennengelernt hatte, bei seinem von jeglicher Vernunft losgelösten und daher wohl häufig terminal endenden Fluchtgebaren zu beobachten. Auch das eine oder andere Reh wird durch mich aufgeschreckt, stellt sich aber wesentlich intelligenter an. Pittoreske Dörfer säumen die Route, die sich neben seiner landschaftlichen Schönheit auch hier wieder durch das Fehlen jedes Autoverkehrs auszeichnet.
Schnell erreiche ich den River Tees, den ich über eine Holzbrücke quere und befinde mich kurz darauf auf den letzten Kilometern zur Kontrolle in Barnard Castle.

Die Kontrolle ist fast leer, ein Zeichen, dass ich das Hauptfeld hinter mir gelassen habe. Bei einer großen Portion Porridge, Toast und Speck tausche ich das bisher Erlebte mit ein paar deutschen Randonnneuren aus und erstehe außerdem einen Ersatzschlauch beim Fahrradmechaniker an der Kontrolle bevor ich wieder aufbreche.
Mittlerweile regnet es kräftig.

Der Wind peitscht mir den Regen ins Gesicht als ich die langgezogenen Hügel erklimme, die zwischen Barnard Castle und dem malerischen Dorf Middleton-in-Teesdale liegen, wo der längste zusammenhängende Aufstieg der Tour auf den Yad Moss beginnt. Am Fuße des Anstieges legt sich der Regen, der Gegenwind aber bleibt und entwickelt sich wegen der kargen, weiten Hochebenen rund um den Yad Moss zu einem veritablen Gegenspieler. Zum Glück ist die Steigung im Vergleich zu unseren Mittelgebirgen eher moderat und so genieße ich die mit zunehmender Höhe immer grandioser werdende Aussicht. Ich passiere auch jene weiße Scheune, die zu den Wahrzeichen von LEL gehört. 

Kurze Schauer und Sonnenschein wechseln sich ab und tauchen die Szenerie in immer wieder wechselnde Stimmungen. Am Passübergang meine ich bereits die Southern Uplands Schottlands erkennen zu können, dann geht es in einer langen Abfahrt hinunter nach Alston, wo eine durch den Regen rutschig gewordene Kopfsteinpflasterpassage auf mich wartet.

Nach Alston setzt sinnflutartiger Regen ein, der die Straße schnell unter einer 10 cm tiefen Wasserfläche verschwinden lässt. 
Ich halte die Luft an und hoffe, dass ich nicht in ein unter der Wasseroberfläche verborgenes Schlagloch rausche, doch zum Glück gehört der Straßenbelag zu den besseren und so bleibe ich von einem weiteren Platten verschont. Einige Kilometer vor Brampton scheint dann wieder die Sonne mit voller Intensität und lässt das gerade Erlebte umso surrealer erscheinen.

Die Kontrolle in Brampton bietet die perfekte Infrastruktur, dazu leckeres Essen und wie überall Helfer, die einem jeden Wunsch von den Augen ablesen. Zu den vielen Kleinigkeiten, die hier neben warmen Essen angeboten werden, gehören auch sensationell gute Äpfel, die eine willkommene Abwechslung zur bisherigen Verpflegung bieten.

Bester Dinge verlasse ich Kontrolle und nehme die nächste Etappe in Angriff, die mich endlich nach Schottland führen wird. Nach einigen flachen Kilometern erreiche ich Longtown von wo es auf einer stärker befahrenen Straße weitergeht, die mir aus 2009 wegen des rücksichtslosen Schwerverkehrs in schlechter Erinnerung geblieben ist. 
Zum Glück zweigt unsere Route bald Richtung Lockerbie ab. Es wird wieder ruhiger, dafür fällt es mit zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten. Die gleißende Mittagssonne und die Tatsache, dass ich wegen des trüben Wetters am Morgen noch die klaren, für die Nacht gedachten Wechselgläser in meiner Sonnenbrille habe, machen es nicht einfacher gegen die schweren Lider anzukämpfen. Dazu kommt, dass die Straße, auf der wir uns jetzt befinden zwar nicht stark befahren ist, dafür aber parallel zur Autobahn, die die Hauptverbindung zwischen England und Schottland bildet, verläuft.
Die aufsteigende Müdigkeit sowie der wegen der bisherigen Routenführung ungewohnte Lärm, entnerven mich und rauben mir jede Kraft. Seit langem überholen mich wieder Radfahrer, ein sicheres Zeichen, dass ich deutlich langsamer geworden bin. Kurz nach Überqueren der schottischen Grenze steige ich vom Rad und schließe, an das Denkmal eines lokalen Dorfpoeten gelehnt, für 15 Minuten die Augen.

Die Müdigkeit ist danach verschwunden, die Moral aber weiterhin am Boden. Ich hadere mit der Streckenführung und dem schlechten Straßenbelag, doch die Rettung naht ausgerechnet in Lockerbie. An einer Tankstelle genehmige ich mir meine bewährte Geheimwaffe: ein Calippo und einen halben Liter Coca Cola!
Sofort als ich weiterfahre, merke ich, dass Kraft und Wille zurückgekehrt sind. Die Straße ist zwar weiterhin öde, aber im Gegensatz zu vorher stört mich das jetzt überhaupt nicht mehr. Der soeben zugeführte Raketentreibstoff treibt die Beine zu einer vor 30 Minuten unvorstellbar gewesenen Leistung an. Im Rausch der Geschwindigkeit rase ich mit brutaler Gewalt über die letzten Hügel, die sich zwischen mir und Moffat aufbauen.

Da ich Edinburgh möglichst noch bei Tageslicht erreichen will, verlasse ich die Kontrolle in Moffat nach einer den nächsten 85 Kilometern angemessenen Mahlzeit. Da Moffat direkt am Fuße der Southern Uplands liegt, beginnt der Aufstieg in diese direkt an der Stadtgrenze. Die tief stehende Spätnachmittagssonne, der blaue Himmel mit vereinzelten Wolken und der moderate Rückenwind machen den Aufstieg in die Uplands zu einem Highlight der gesamten Tour. Sanft steigt die Straße an der einen Talseite an und gibt den Blick auf einen in saftiges Grün getauchten Talkessel frei, den sogenannten Devils Beef Tub. Das ist die pure Leichtigkeit des Seins. Für solche Momente lohnt  es sich zu leben und leiden!

Bald erreiche ich einen Pass, dann geht es kilometerlang leicht bergab durch ein Tal, dem bis auf die Straße jedes Zeichen von Zivilisation fehlt. Auf meinen Triathlonaufsatz liegend komme ich schnell voran, erreiche schließlich den Talgrund von dem es jetzt immer leicht bergauf geht, was wegen des Rückenwindes aber kaum wahrnehmbar ist. Zwischenzeitlich komme ich in einen kräftigen Schauer, der mich aber nach kurzer Zeit aus seiner nassen Umklammerung entlässt und mich fortan immer weiter nach Edinburgh treibt. Ein paar Mal noch steht die Straße komplett unter Wasser, noch ein paar knackige Anstiege, dann geben mich die Uplands wieder frei und kurz nach Einbruch der Dunkelheit ist Edinburgh erreicht.

Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf und voller Vorfreude auf eine heiße Dusche, frische Radkleidung, eine warme Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf stelle ich mein Rad an der Wand des Sportzentrum ab, in dem sich die Kontrolle befindet. Nach Entgegennahme meines Bag-drops setzte ich meine Pläne dann sofort in die Tat um und liege schon bald auf einer der komfortablen Luftmatratzen und versinke augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Nach drei Stunden werde ich wie abgemacht geweckt. Die Halle, in der ich geschlafen habe, muss sich mittlerweile gefüllt haben, anders ist das konzertartige Schnarchen nicht zu erklären. Nach einem schnellen Frühstück, das aus Nudeln besteht, bin ich bereit für die Rückfahrt.

Edinburgh - Loughton


Gegen 2.00 Uhr schwinge ich mich wieder auf mein Rad und mache mich auf den Rückweg. Der Verkehr ist dank der nachtschlafenden Zeit nicht existent und so verlasse ich Peripherie Edinburghs zügig, um mich auf kleinen Sträßchen wieder in die Southern Uplands hochzuarbeiten. Der Abschnitt zwischen Edinburgh und Langholm war 2009 der Abschnitt, der mir am besten gefallen hatte. Entsprechend groß ist die Vorfreude. Schon bald taucht unter mir das Lichtermeer von Edinburgh und Agglomeration auf, während ich den ersten Ausläufer der Uplands erklimme.
Auf dessen Gipfel halte ich für ein paar Minuten und nehme wehmütig Abschied von Edinburgh, dem Fixpunkt, auf dessen Erreichen sich in den letzten zwei Tagen alles drehte.

Bald darauf geht es in einer langen Abfahrt mit gleichmäßiger Steigung hinunter nach Innerleithen, das um diese Zeit verlassen vor sich hinschlummert. Die Temperatur ist auf gefühlte 6°C abgesunken, so dass ich auf der langen Abfahrt zum ersten Mal friere. Daher bin ich froh, dass kurz darauf der Anstieg zur Kontrolle in Traquair beginnt, wo ich standesgemäß von einem Helfer im Schottenrock empfangen werde.

An diese Kontrolle habe ich sehr gute Erinnerungen und es scheint das gleiche Team vor Ort zu sein wie 2009. Da außer mir nur drei weitere Randonneure vor Ort sind, genieße ich Rundumbetreuung. Ich erhalte einen großen Becher heißen Tee und eine noch größere Portion Porridge vorgesetzt. Auf die Abfahrt nach Innerleithen angesprochen, erzählt mir ein freundlicher älterer Herr, dass die Straße von einem Eisenbahningenieur entworfen wurde, was das perfekt gleichmäßige Gefälle erklärt.

Mit Einsetzen der Morgendämmerung sitze ich wieder auf dem Rad. Eine Zeit lang begleitet mich ein sanft dahinplätschernder Bach bei meinem Aufstieg auf die nächste Hügelkette, dann rausche ich hinunter in ein grünes Tal, aus dem sich träge der Tau in Form von Nebelschwaden unter den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages emporhebt.

Ich überquere einen kleinen Fluss am Talgrund und schon geht es an der Flanke der nächsten Hügelkette wieder bergauf. Ich quere noch zwei bis drei weitere einsame Hochtäler, dann holt mich die Zivilisation in Form eines buddhistischen Klosters wieder ein und kündigt gleichsam das baldige Erreichen der Kontrolle in Eskdalemuir an.

Ich nehme das mittlerweile dritte Frühstück des Tages ein, das auch hier wieder vorzüglich schmeckt, werfe einen letzten Blick auf die in die Jahre gekommene Community Hall, die mit unserem Gastspiel eine, wie ich finde, würdige letzte Veranstaltung beherbergte, bevor sie dem Erdboden gleich gemacht werden wird und mache mich auf den Weg zurück nach Brampton. 

Die nächsten 20 Kilometer über eine teils stark in Mitleidenschaft gezogene Straße führen schließlich aus den Southern Uplands heraus, wo die Route in Langholm auf die Schnellstrasse nach Longtown abzweigt.
Zum Glück gibt es mittlerweile einen Radweg, der in einigem Abstand zu der durch viele Lastwagen befahrenen Schnellstraße entlang führt, so dass dieser Abschnitt nicht so schlimm ist wie in 2009. In Longtown ist die Schleife durch Schottland schließlich beendet und die Route ist wieder identisch mit dem Hinweg. Vereinzelt kommen mir noch Fahrer auf ihrem Weg nach Edinburgh entgegen, dann rolle ich zum zweiten Mal in Brampton ein.

Eine warme Mahlzeit und zwei Äpfel später bin ich bereits wieder auf der Straße. Mich empfängt ein moderater Gegenwind, aber es ist kein Vergleich zu 2009, als ich auf diesem Abschnitt trotzt größter Anstrengung nur 12 km/h schaffte. Kurz vor Alston überholt mich eine Gruppe Rennradfahrer auf einer Trainingsausfahrt. Auf meine Startnummer angesprochen, gebe ich Auskunft und ernte wie so oft Erstaunen. Der ehrliche Respekt und die guten Wünsche sind Gold wert für meine Moral. Seit Edinburgh läuft es wie geschmiert, die Beine fühlen sich gut an und so nehme ich die steile Kopfsteinpflasterpassage durch Alston im Sattel sitzend.Kräfteschonend pedaliere ich den Anstieg zum Yad Moss hinauf und werde mit einer langen Abfahrt bei perfekter Fernsicht hinunter nach Middleton-in-Teesdale belohnt. 

Wegen des Traumwetters wirkt der Ort heute besonders schön. Die Route verläuft auf dem Rückweg auf der anderen Seite des River Tees, was deutlich weniger Höhenmeter bedeutet. Über mauergesäumte Sträßchen gleite ich dahin und genieße die Schönheit dieses Abschnittes in stiller Dankbarkeit. Vorbei an der Ruine von Barnard Castle rolle ich schließlich in das gleichnamige Städtchen mit der nächsten Kontrolle ein. Die Kontrolle ist fast leer, also keine Möglichkeit viel Zeit zu vertrödeln und so bin ich kurz darauf wieder unterwegs.

Es folgt die Holzbrücke über den River Tees, heckengesäumte Lanes, malerischen Dörfchen, alle bereits auf dem Hinweg durchquert, aus der neuen Perspektive dennoch fremd wirkend. In Middleton Tyas drehe ich ein paar Kreise, da ich die nord- und südwärts führende Route mehrmals durcheinander bringe und erreiche schließlich Thirsk am späten Nachmittag.

Auch hier halte ich mich nicht zulange auf, denn ich möchte die nun folgenden Howardian Hills endlich einmal bei Tageslicht sehen. Ein weiterer Platten, diesmal am Hinterrad, den ich unter Verwendung des in Barnard Castle erstandenen Schlauches behebe, hält mich nur kurz auf. Ein Blick auf den Tachometer zeigt mir, daß ich gerade die 1000 Kilometermarke passiert habe. Dann folgen die berüchtigten Rolling Hills. Bei Tageslicht verlieren sie jedoch viel von ihrem Schrecken. Die Straße überspannt die Hügel zwar immer noch ohne jede die Steigung mindernde Kurve, aber die Abfahrten können wegen des Tageslichts zum Schwungholen genutzt werden, so dass die Anstiege nicht ganz so steil erscheinen.

Manchmal führt die Straße aus dem dichten Wald und gibt den Blick auf die in die Abenddämmerung getauchte Ebene frei.
Durch den weiten Park von Castle Howard lässt sich die Straßenbautechnik der Rolling Hills auf einer kilometerlangen Gerade nochmals erfahren. In der Abendstimmung gibt das direkt an der Strecke liegende Castle Howard ein imposantes Bild ab. Kurz darauf schließt sich mir ein Engländer an, in eine Unterhaltung vertieft, verpassen wir dann allerdings eine Abzweigung, was uns 7 Extrakilometer einbringt.
Mittlerweile ist es Nacht geworden. Vorsichtig passieren wir den Abschnitt mit den schmalen Feldwegen, den unzähligen Schlaglöchern und dem teilweise weggebrochen Straßenbelag. Kurz vor Pocklington fällt dann noch die Batterielampe des Engländers aus, mein Licht reicht aber, um uns sicher durch die stockfinstere Nacht zur Kontrolle in Pocklington zu bringen.

In Pocklington stehe ich vor der Entscheidung eine längere Schlafpause einzulegen oder gleich weiterzufahren. Da ich aber keine Müdigkeit spüre und die Verlockung groß ist, am nächsten Abend das Ziel zu erreichen , gehe ich einen Kompromiss ein und schlafe 20 Minuten am Tisch, bevor ich weiterfahre. Sicherheitshalber kaufe ich aber noch zwei Schläuche für den Fall, dass mich ein weiterer Platten ereilen sollte.

Die ersten Stunden verlaufen ereignislos, die Landschaft ist nur zu erahnen, allerdings ist es empfindlich kalt geworden. Endlich taucht in der Ferne die hell erleuchtete Humber Bridge auf. Zusammen mit zwei Deutschen, auf die ich kurz vorher aufgefahren bin, überquere ich die Brücke. Die nächsten Kilometer bleiben wir zusammen, dann fällt es mir immer schwerer, die Augen offen zu halten. Ich kämpfe mit Sekundenschlaf und realisiere, dass ich es so nicht bis nach Market Rasen schaffen werde. Ich lasse die beiden ziehen, halte an einem verlassenen Industriegelände an und kauere mich in eine windgeschützte Ecke und bin trotz der Kälte sofort eingeschlafen. Den Alarm habe ich auf 15 Minuten eingestellt. Meine innere Uhr oder die in mir hochkriechende Kälte wecken mich dann Sekunden bevor der Alarm losgeht. Zitternd fahre ich weiter und versuche die Kälte mit ein paar Sprints aus meinem Körper zu vertreiben.

Im Morgengrauen erklimme ich schließlich die kleine Hochebene vor Market Rasen, dann ist auch dieser lange Abschnitt geschafft. In der Kontrolle komme ich in den Genuss von Boef Stroganoff mit süßen Bohnen, wohl eine Mischung aus dem Abendessen von gestern und dem Frühstück, das gerade vorbereitet wird. Das Ganze schmeckt unerwartet gut und so verlange ich Nachschlag.

Die nächste Etappe beginnt wieder mit dem einem Labyrinth gleichenden Lanes, doch mein GPS hält mich auf Kurs. Eine sich anbahnende Krise kann ich mit einer Flasche Coca Cola gerade noch stoppen. Nach etlichen Kilometern auf dem Damm eines idyllischen Kanals, einigen Regenschauern und langsam auffrischendem Gegenwind, erreiche ich die Kontrolle in Kirton.

Hier komme ich zur richtigen Frühstückszeit an, so dass ich eine große Portion Toast, süße Bohnen, Speck und Würstchen vorgesetzt bekomme, die mir genügend Energie für die langen Ebenen der Fens bringen sollte.

Zurück auf der Straße merke ich bald, dass die Fens heute eine harte Prüfung sein werden. Die weite Ebene bietet keinen Schutz vor dem kräftigen Gegenwind, außerdem regnet es ununterbrochen und die kilometerlangen Geraden sind an Monotonie nicht zu überbieten. Langsam quäle ich mich dahin, versuche mich auf meine Trittfrequenz zu konzentrieren und dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Auch dank des erneuten Einsatzes meiner Geheimwaffe (Eis und Cola) finde ich schließlich zur richtigen Einstellung zurück. Kurz vor St. Ives komme ich dann nochmals in einen heftigen Platzregen, dann sind die Fens durchquert und die vorletzte Kontrolle ist erreicht.
Die Kontrolle ist noch nicht so richtig auf die Zurückkehrer eingerichtet, aber das große Nutellaglas und etliche Scheiben Toast reichen, um mich glücklich zu machen.

Nach St. Ives verläuft die Route anders als auf dem Hinweg mit einer letzten Kontrolle in Great Easton. Auf die Frage, ob die nächste Etappe irgendwelche Besonderheiten bringe, erhalte ich die Antwort: "nothing special, just some rolling hills". Eigentlich hätte ich hier hellhörig werden müssen, doch die Tatsache, dass es nur noch 118 Kilometer bis ins Ziel sind, macht mich leichtsinnig und ich mache mich eher auf ein lockeres Ausrollen gefasst, was die ersten Kilometer nach St. Ives dann auch sind. Bei mittlerweile wolkenlosem Himmel und Temperaturen, die wieder die 30°C erreichen, rolle ich der nächsten Kontrolle entgegen. Der dichte Bewuchs am Straßenrand schützt mich außerdem vor dem weiterhin stetig wehenden Nordwind. Eine erste Erhebung überquerend, schätze ich meine Ankunftszeit im Ziel ab.

Kurz darauf geht es hinauf auf die nächste Hügelkette, es folgen ein paar hochprozentige Anstiege und plötzlich beginnt meine linke Achillessehne zu schmerzen. Dies ist vermutlich Ursache meiner Faulheit, seit einiger Zeit nicht mehr aufs kleine Kettenblatt zu schalten und jeden Anstieg mit niedriger Trittfrequenz und großem Kraftaufwand zu fahren.

Ich erreiche das Schloss von Saffron Walden, dessen Passage ich für den unerwarteten Abstecher in die Hügel verantwortlich mache. Allerdings ändert sich der Streckencharakter auch nach der Passage dieses unbestreitbar sehenswerten Schlosses nicht wirklich.Vielmehr habe ich das Gefühl, dass unsere Route gleich mehrmals über den gleichen Hügelkamm führt, dabei immer die steilsten Anstiege suchend.
Irgendwo hier muss es sein, dass ich für einen Moment die Gesamtleistung des Streckenplaners aus den Augen verliere und dem nächsten, sich wie eine Wand vor mir aufbauenden Anstieg ein "the Routemeister tries to kill us" entgegenschreie. Gegen Ende einer solch langen Fahrt rücken Himmel und Hölle halt immer näher zusammen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass ich mich kurz darauf bei Betreten der letzten Kontrolle im Schlaraffenland wiederzufinden scheine.
Auf den Tischen liegen Berge von süßen und sauren Gummibärchen sowie frische Doghnuts, lauter ungesundes Zeug also, von dem ich aber gar nicht genug bekommen kann. Dazu gibt es leckeren Milchreis mit Früchten. Ich unterhalte mich noch einige Zeit mit der sympathischen, ausgezeichnet deutsch sprechenden Chefkontrollerin, dann verlasse ich die kleine Kontrolle mit dem netten, jungen Kontrollteam.

Das Verlassen der letzten Kontrolle ist immer ein besonderer Moment. Dem Ziel so nahe, wird mir bewusst, dass es beim nächsten Stopp nicht mehr weitergehen wird, dass die Reise, die für mich gedanklich mit der Anmeldung im Januar begonnen hat, die meine Gefühle in den letzten Tagen wiederholt auf Achterbahnfahrt geschickt hat, beendet sein wird. Wehmut, Vorfreude und Erleichterung  wechseln sich ab, während die letzten Rolling Hills in der Abenddämmerung unter den schmalen Reifen hinweggleiten. Ich versuche die letzten Kilometer ganz bewusst zu genießen, die letzten Tage nochmals Revue zu passieren lassen. Dazu mischt sich stille Dankbarkeit, gesund und ohne größere (mechanische) Defekte durchgekommen zu sein.
Das Überqueren der lärmenden Autobahn kurz vor Loughton beendet dann diese meditative Phase und leitet den Endspurt ein. Am Mittwochabend, um 21.00 Uhr, genau 86h nach dem Start, steige ich vom Rad, das mir auch diesmal wieder ein zuverlässiger Gefährte gewesen ist, lasse mir den letzten Stempel in die Brevetkarte drücken und nehme die Finishermedallie in Empfang. 
All good things come to an end!

Ein ganz grosses Dankeschön allen freiwilligen Helfern, die uns mit ihrem unermüdlichen Einsatz dieses unvergessliche Erlebnis ermöglicht haben.


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